70 Jahre Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen

Der Anspruch des Bürgermeisters Theodor Spitta und die Wirklichkeit
Nachricht30.08.2017Christiane Pitschke
Theodor-Spitta
Theodor-Spitta@Liberale Gesellschaft Bremen

Einführungsvortrag von Horst-Jürgen Lahmann, Vorstandsvorsitzender der Liberalen Gesellschaft Bremen e.V. anlässlich der Veranstaltung
"70 Jahre Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen - Der Anspruch des Bürgermeisters Theodor Spitta und die Wirklichkeit" am 16. August 2017 in Bremen:

Die Leistung des bedeutenden liberalen Juristen und Politikers war großartig und zukunftweisend. Sie und die herausragende Persönlichkeit Spittas sind gerade der Liberalen Gesellschaft von 1965 Grund und Anlaß, ihn und sein schöpferisches Werk zu würdigen. Er hat ja 2 bremische Verfassungen entworfen und tat das in hanseatisch-liberalem Geist. Er knüpfte dabei an die fortschrittliche Tradition der liberalen Bewegung an, die von Anfang an im deutschen Verfassungsleben eine prägende Rolle gespielt hat. Schon die Paulskirchenverfassung 1848/49 hatten die Liberalen geschaffen. Auch die Weimarer Reichsverfassung stammte von einem Liberalen: Hugo Preuß. Und wie danach im Parlamentarischen Rat die Freien Demokraten Theodor Heuss, 1. Bundespräsident, Thomas Dehler, 1. Bundesjustizminister, und Hermann Höpker-Aschoff, 1. Präsident des Bundesverfassungsgerichts: alle glühende Verfechter des Rechtsstaats der ersten Stunde! – nahm der bremische Justizsenator Theodor Spitta (BDV/FDP) schon an den vorbereitenden Beratungen des Verfassungskonvents über das Grundgesetz im Alten Schloss Herrenchiemsee teil (genau heute vor 69 Jahren: Verfassungskonvent vom 10.-23. August 1948); dort setzte er auch die Aufnahme der „Bremer Klausel“ zum Religionsunterricht in unsere liberale Bundesverfassung durch; man schenkte sie ihm sozusagen für seine Verdienste.

Dieser kleingestaltige große Mann war nach der Entwertung aller Werte, wie seine Verfassung von 1947 beweist, geradezu ein Standbild klarer Worte und klarer liberaler Grundsätze: Freiheit, Sittlichkeit, Duldsamkeit, Gerechtigkeit prägten ihn wie auch die Artikel 1 und 3 BremLVerf. Arbeit war für ihn eine sittliche Pflicht (Art. 8), jede Arbeit hatte „den gleichen sittlichen Wert“ (Art. 37) – wichtige Hinweise noch heute in der sozialpolitischen Debatte über die Zumutbarkeit der Arbeit – viel zu wenig beachtet! Er hatte den Anspruch, eine Verfassung mit Ewigkeitsgeltung zu schaffen: Keine Änderungen! Wie bekanntlich nach Artikel 79 auch die elementaren Prinzipien des Grundgesetzes unabänderlich sind. Deshalb in Bremen das Einstimmigkeitsgebot für Verfassungsänderungen: Ich habe es in den 12 Jahren meiner Zugehörigkeit zu Landtag und Stadtbürgerschaft stets als besonderes Vorrecht mit ausgeprägter Verantwortung jedes einzelnen Abgeordneten empfunden. Leider haben es unsere Nachfolger, lieber Bernd Neumann, durchlöchert, praktisch abgeschafft – wie auch den Anti-Filz-Artikel 84 für die Landesebene, mit dem die FDP-Fraktion unter meiner Führung 1976 einmal ein besonderes Exempel statuiert hat, durch das die Mehrheitsfraktion sich zu einem Rückzieher genötigt sah. Hing übrigens damals der nur teilweise durchschlagende Erfolg wohl auch damit zusammen, daß sich in der Zusammensetzung des von uns angerufenen Staatsgerichtshofs die aktuellen parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse widerspiegeln? Ein Prinzip immerhin, das wir heute in Polen und allenthalben als Manipulation kritisieren! Reformbedarf? Die „Bremer Klausel“ (Art. 32 i. V. mit Art. 26) habe ich schon erwähnt: Sie verlangt – bei aller Trennung von Kirche und Staat (Art. 59) - einen Religionsunterricht der Toleranz, aber auf der Grundlage der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes (wie es, so Heuss, auf den drei Erhebungen Golgatha, Akropolis und dem Kapitolinischen Hügel gründet – wir ergänzen sie um den Humanismus der Aufklärung)! Sehr bedenkenswert! Oder etwa überholt? Warum? Man hört, der Unterricht werde so in Bremen gar nicht mehr erteilt. Verfassungswidrig?  Gewiß war, wie die Tendenz und mittlerweile die Inflation von 22 Verfassungsänderungen (!) seither, auch das inzwischen eingeführte Transportverbot für die Häfen nicht in Spittas Sinne. Legt man nicht so in Wirklichkeit die Axt an die Wurzel der bremischen Selbstständigkeit – nämlich an die internationale Universalität unserer Häfen, unsere einzige gesamtstaatliche Aufgabe? Stockt die logistische Drehscheibe zu Wasser, auf Brücken und Straßen? -  Noch eine allerletzte Anmerkung zur Verfassungswirklichkeit, die die Liberale Gesellschaft auch schon einmal in einer Denkschrift 2009 geäußert hat: Im Haushaltsnotlageland Bremen könnte man ja auf den Gedanken kommen, gewisse Vermögensbestandteile zu veräußern, um die maßlose Überschuldung wenigstens zu verringern – statt Stromnetze, Müllabfuhr und Recyclinghöfe, ohne sachlich zwingenden Grund, auch noch zu rekommunalisieren. Gegen Vermögensveräußerungen – zu Deutsch: Privatisierungen -  hat aber die gegenwärtige Regierungsmehrheit unter dem Deckmantel von mehr direkter Demokratie durch Verfassungsänderung eine nahezu unüberwindliche Hürde in Form eines Volksentscheids aufgerichtet (Art. 70 (2) i. V. mit Art. 42 (IV)). Es wird also nicht mehr der Bürgerschaft allein überlassen, eine solche verhältnismäßig einfache Frage der Zweckmäßigkeit zu entscheiden. Ist das nur ideologisch geleitetes Mißtrauen gegenüber den gewählten Abgeordneten? Oder eher noch die gezielte Absicht, nach dem offenbar befürchteten Verlust der heute bestehenden Regierungsmehrheit die verlorene Machtposition in der Sache über den Verlust hinaus zu erhalten und einer neuen Mehrheit die Hände zu binden? Das wirkt undemokratisch und sieht wie ein Mißbrauch der geänderten Verfassung aus.  Lauter Themen für unser Podium!

Wenn wir Spitta heute besonders herausheben, so wollen wir nicht vergessen: Natürlich haben die Freisinnigen bei allem Einfluß die Gestalt der freiheitlichen Verfassungen nicht allein bestimmt. Das gelang nur im Zusammenwirken mit so dominanten Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Carlo Schmid im Falle des Grundgesetzes und wie Wilhelm Kaisen im Falle der Bremischen Landesverfassung. Gerade die Erfahrungen aller Beteiligten mit zwei Weltkriegen, das Versagen der Parteien von Weimar und die Katastrophe des Nationalsozialismus führten sie zusammen, um gemeinsam einen freiheitlich verfaßten, demokratischen und sozialen Rechtsstaat aufzubauen.

Wir wollen heute auch nicht nur den Geist bei der Geburt unserer Verfassung beschwören. Wir wollen uns ebenfalls fragen, was inzwischen daraus geworden ist. Zum Anspruch des Anfangs gehören auch die heutige Verfassungswirklichkeit und die praktische Politik. Wir richten unseren Blick zurück - und voraus auf Gegenwart und Zukunft. Nur so lernen wir, wie wir auch unter schwierigen Bedingungen Frieden, Freiheit, Sicherheit, Rechtsstaat und soziale Ordnung besser stärken und allen Bürgern ein auskömmliches und würdiges Leben in einem zurückhaltend, aber angemessen handelnden Gemeinwesen ermöglichen können, ohne unsere bewährte Spitta-Verfassung zu brechen oder zu verbiegen.